Es war, als wäre die Welt eingefroren. Eine dicke Schneedecke hatte sich über die Landschaft gelegt, winzige Schneeflocken schwebten vom Himmel herab und landeten lautlos auf der Erde. Die hohen Bäume hinter dem Haus bewegten sich kaum merklich im stummen Winterwind. Nur die dünnsten Äste zitterten ein wenig heftiger, als würden sie ihre wärmenden Blätter vermissen, die sie noch vor einigen Wochen getragen hatten.
Melina saß am Fenster und atmete tief die eisige Luft ein, die langsam ihr Gesicht rot färbte. Sie lauschte dem fast nicht wahrnehmbaren Knacken der Eiszapfen am Dach, dem gedämpften Gackern, das mit den Schneeflocken aus Richtung Hühnerstall vorbeigeweht wurde, und der Stille des Winters. Das war es, was das Mädchen am meisten liebte an der kalten Jahreszeit: die Ruhe, die einkehrte, wenn die Welt Pause zu machen schien. Melina schloss die Augen und…
„Ich hasse Weihnachten!“
Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen und öffnete ruckartig die Augen, nur um sie dann genervt zu verdrehen. Leider war sie die Einzige in der Familie, die den Winter und vor allem Weihnachten liebte.
„Stress, jede Menge Arbeit mit dem Geschenke-Einkaufen, Baumschmücken, der Druck, jedes Jahr ein besseres Festmahl zu kochen, das Haus für den Besuch vorbereiten – Also ich weiß ja nicht, was manche Menschen an Weihnachten schön finden“, erklärte ihre Mutter immer.
„Ich würde ja lieber irgendwo am Strand liegen, mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen und den eisigen Temperaturen entkommen. Dann würde mir auch der ganze Vorweihnachtsstress erspart bleiben und ich müsste mich nicht mit den idealen Maßen von Christbäumen herumschlagen“, meinte dagegen häufig Melinas Vater. Spätestens seit dem Fest vor drei Jahren, als er einen zu großen Weihnachtsbaum besorgt hatte, den sie schließlich nicht durch die Wohnzimmertür gebracht hatten, gehörte Weihnachten nicht mehr gerade zu seinen Lieblingsfesttagen.
„Können wir nicht lieber schon zu Weihnachten auf Schi-Urlaub fahren? Das ist viel spannender als Plätzchen zu backen, lahme Weihnachtslieder zu singen und Christbaumschmuck zu bemalen. Aus dem Alter, in dem das Spaß macht, bin ich schon lange raus.“ Diese Meinung vertrat Melinas älterer Bruder Lars. Für ihn musste neuerdings alles „cool“ und „nice“ sein und selbstverständlich Eindruck bei seinen Instagram-, Facebook- und Twitter-Followern schinden.
Auch dieses Jahr schien der 23. Dezember nicht gerade ein freudiger Tag zu werden. Statt Keks- und Tannenduft lagen schon jetzt Anspannung und Stress in der Luft. Statt den Klängen von Glocken und Weihnachtsliedern drangen aufgebrachte Stimmen an Melinas Ohren.
„Ich hab doch gesagt, wir brauchen noch Zutaten für das Weihnachtsessen. Ich hatte dich gebeten, einkaufen zu gehen. Und wenn ich mich recht erinnere, war das um neun Uhr. Jetzt ist es kurz vor zwölf und du weißt, dass die Geschäfte heute früher zusperren“, meinte Mama vorwurfsvoll.
„Ja, ja, ist ja gut. Ich werde ja gleich losgehen“, murmelte Lars und obwohl Melina ihn nicht sehen konnte, wusste sie, dass ihr älterer Bruder am Handy herumtippte.
„Jetzt leg doch das Handy endlich mal aus der Hand!“ – Melinas Vermutung hatte sich bestätigt. Nun klang ihre Mutter nicht mehr nur aufgebracht, sondern richtig verärgert.
Rasch erhob sich Melina von ihrem Lieblingsplatz. Sie schloss das Fenster und wischte das Wasser der geschmolzenen Schneeflocken aus ihrem eisigen Gesicht. Dann verließ sie so schnell wie möglich ihr Zimmer und eilte die Treppe hinunter.
„Ich übernehme das Einkaufen!“, rief sie ins Wohnzimmer, noch bevor sie unten angekommen war. Heftig atmend, aber erleichtert darüber, einen Streit zwischen ihrer Mama und ihrem Bruder verhindert zu haben, stand Melina schließlich vor dem Esstisch.
Ihre Mutter schenkte ihr ein dankbares, wenn auch nicht sehr entspanntes Lächeln. „Das ist lieb von dir, Melina“, meinte sie, wandte sich dann aber streng an Melinas Bruder: „Aber Lars, du begleitest deine Schwester. Alleine kann sie die Einkäufe nicht tragen. Und dein Handy bleibt hier.“
Lars wollte protestieren, doch Melina nahm ihm eilig das Handy aus der Hand und zog ihren Bruder, noch bevor er irgendetwas erwidern konnte, ins Vorzimmer. Er warf seiner kleinen Schwester zwar einen grimmigen Blick zu, sagte aber nichts. Als die beiden das Haus verließen, hörten sie noch die genervte Stimme ihrer Mutter, die sich über das Chaos im Wohnzimmer beschwerte und sich ratlos zeigte, wie sie in dieser Unordnung Platz für den Weihnachtsbaum schaffen sollte. Die Antwort ihres nicht weniger aufgebrachten Papas, dass der Baum doch wirklich ihr geringstes Problem war, nahm Melina nur noch halb wahr.
Die plötzliche Kälte, die die Geschwister empfing, ließ die beiden sofort zittern. Lars band sich seinen Schal ein wenig enger um den Hals. „Warum muss es im Winter immer so kalt sein?“, grummelte er und stapfte los, ohne auf Melina zu warten.
Sie musste sich anstrengen, um ihn einzuholen. „Da könnte ich ja genauso gut fragen, warum es im Sommer heiß ist“, meinte sie. „Außerdem macht dir die Kälte beim Schifahren auch nichts aus“, fügte das Mädchen hinzu.
„Schifahren macht ja auch Spaß. Da spielt Kälte keine Rolle“, gab Lars zurück. Das Argument verstand Melina zwar nicht ganz, aber sie wollte nicht auch noch zu diskutieren anfangen. Die Streitereien ihrer Familienmitglieder reichten ihr schon vollkommen aus.
„Komm, lass uns noch kurz nach den Hühnern sehen“, schlug Melina vor, als sie an dem riesigen Stall im Garten vorbeimarschierten. Nach langem Betteln der Kinder hatte sich die Familie im Sommer dazu entschlossen, einige gefiederte Mitbewohner aufzunehmen. Besonders der Vater hatte sich nur langsam überreden lassen. Inzwischen hatten alle Familienmitglieder die Hühnerherde ins Herz geschlossen. So oft wie möglich verbrachte das Mädchen nun Zeit bei ihren Lieblingen.
„In Ordnung“, gab Lars zurück. Melina lächelte zufrieden. Auch wenn sie und ihr Bruder inzwischen wenig gemeinsame Interessen hatten, verband sie die Liebe zu Tieren und die Begeisterung für ihre neuen Gartenbewohner.
Im Stall wurden die Geschwister von warmer Luft, dem Duft von Heu und dem leisen Gackern der Hennen empfangen. Fünf Hühner kuschelten im Stroh und sprangen auf, als Melina und Lars den Raum betraten. Freudig kamen die Tiere auf die beiden zu und ließen sich das Gefieder streicheln. Durch die vielen Stunden, die Melina bei den Hennen im Stall verbracht hatte, waren die Tiere zutraulich geworden und wagten sich nahe an Menschen heran. Umgekehrt hatte das Mädchen viel von den Hennen gelernt: Die engen Freundschaften, die die Tiere untereinander pflegten, und die ruhige, kluge Art der Hennen faszinierten Melina.
Lars kniete sich auf den Boden und Pia, eine gesperberte Henne, kam auf ihn zu. „Schau mal, was ich hier Leckeres habe“, meinte er sanft und streckte ihr einen Mehlwurm hin. Melina zog ebenfalls einige Leckerlis aus ihrer Tasche und sofort liefen die vier anderen Tiere zu ihr. Mit leisen Geräuschen forderten sie das Mädchen auf, ihnen die Leckerbissen zu geben. Melina sah in ihre Augen und hatte wie so oft das Gefühl, darin eine tiefe Zuneigung zu erkennen. Fast, als ob die Hennen viel mehr vom Leben verstehen würden als sie, und ihr mit ihren Blicken sagen wollten, dass alles gut werden würde. Besonders Flocke, eine strahlend weiße Henne mit einem hellbraunen Fleck auf dem rechten Flügel, hatte einen fast weisen Gesichtsausdruck, fand Melina. Diese Henne hatten sie als letzte bekommen, aber sie hatte sofort die Leitung der Hühnerherde übernommen: Mit ihrem ruhigen Gemüt schlichtete sie kleine Streitereien und führte ihre Freundinnen zu den besten Futterplätzen.
„Hey, Pia! Hier spielt die Musik!“ Melina wurde von der genervten Stimme ihres Bruders aus ihren Gedanken gerissen. Verwirrt schaute sie sich um und verstand, was Lars meinte. Henne Pia interessierte sich nicht mehr für seine Mehlwürmer, sondern war wie ihre Freundinnen zu Melina gekommen und wartete mit großen Augen auf einen Leckerbissen von dem Mädchen. „Pia, geh doch wieder zu Lars. Sonst ist er enttäuscht“, flüsterte sie der Henne zu, aber diese verstand anscheinend nicht, was sie von ihr wollte.
Lars stand rasch auf und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. „Kommst du dann mal, wir müssen doch einkaufen gehen!“ Melina wusste, dass sie ihre Hennen noch belohnen musste und erwiderte leise: „Ja, gleich. Ich gebe ihnen noch schnell die Leckerlis.“ Vorsichtig reichte sie den Tieren kleine Futterstückchen und spürte, wie Lars hinter ihr ungeduldiger wurde. Mit seinem Schuh tippte er nervös auf den Boden und die Hennen zuckten bei dieser schnellen Bewegung erschrocken zusammen. „Lars, bitte. Du verschreckst doch die Hühner. Sie mögen keine Unruhe im Stall.“ Ihr Bruder gab einen schnaubenden Laut von sich und drehte sich ruckartig zur Tür. „Weißt du was? Mir reicht dein Getue! Du verhältst dich immer so, als wärst du die Hühnerexpertin und alle anderen haben keine Ahnung von Tieren. Und nur weil die Hennen öfter zu dir kommen, heißt das nicht, dass sie dich lieber mögen!“ Bei den letzten Worten war Lars richtig laut geworden und die Hühner waren erschrocken in die hinterste Ecke des Stalls geflüchtet.
Melina spürte einen Kloß im Hals und stand langsam auf. „Aber Lars, so habe ich das doch nicht gemeint! Und die Hühner mögen uns alle gleich gern. Ich hatte gerade nur die besseren Leckerlis!“ Eine Träne glänzte in ihrem Augenwinkel. Sie hatte gedacht, die Hennen würden ihren Bruder aufheitern, doch nun war alles nur noch schlimmer geworden.
„Ja genau, und jetzt willst du mir auch noch sagen, was die besseren Leckerlis sind! Mir reicht es!“ Lars verschränkte wütend die Arme und verließ den Stall. Melina blieb mit den Hennen zurück und konnte nun die Tränen nicht mehr zurückhalten. Tief in ihrem Inneren schmerzte es. Weihnachten sollte doch das Fest der Liebe und der Familie sein. Wieso waren nur alle so schlecht gelaunt? „Lars? Lars! Warte doch!“, rief sie ihrem Bruder hinterher und rannte ebenfalls aus dem Stall.
Melina war Lars durch den Schnee hinterhergehetzt und hatte ihn erst kurz vor dem Supermarkt eingeholt. Ohne ein Wort zu wechseln, hatten die Geschwister Lebensmittel in den Einkaufswagen geworfen. Obwohl das Mädchen normalerweise an keiner Weihnachtsbeleuchtung und keinem Christbaumschmuck vorbeigehen konnte, ohne sich diese Dinge genau anzusehen und das Glitzern und Funkeln zu genießen, würdigte sie heute alles, was mit Weihnachten zu tun hatte, keines Blickes. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich wieder mit Lars vertragen und für friedliche Stimmung in der Familie sorgen könnte. Zuhause angekommen, schlichtete sie fleißig die Einkäufe in den Kühlschrank und die Vorratskammer, während Lars sich in sein Zimmer zurückzog und wieder in der Welt von Facebook, Instagram und Co versank.
Melina beschloss, sich einen Tee zu machen, und summte Weihnachtslieder zu den leisen Geräuschen des kochenden Wassers. Sollte ihre Familie doch machen, was sie wollte, ihr würde jedenfalls niemand die Weihnachtsstimmung zerstören. Doch gerade in diesem Moment kam ihre Mutter hastig durch die Terrassentür. „Melina? Lars? Wart ihr vorher bei den Hühnern?“, fragte sie aufgeregt und mit einem leicht drohenden Unterton.
Erschrocken ließ Melina das kochende Wasser stehen und sprintete ins Wohnzimmer. „Ja, was ist denn mit den Hühnern?“, wollte sie ängstlich wissen und sah ihre Mutter ungeduldig an. Auch Lars hatte von dem Trubel mitbekommen und kam mit besorgtem Gesicht die Treppe hinunter. „Die Stalltür war offen!“, rief ihre Mama und Melina merkte, wie ihr ein eisiger Schauer den Rücken hinunterlief. Noch nie zuvor hatte sie vergessen, die Tür zu schließen. Aber heute… Heute war alles anders gewesen. Heute war Weihnachten in Gefahr gewesen. Und nun war Weihnachten endgültig gestorben. „Melina! Du warst zuletzt im Stall. Wenn den Hühnern etwas zustößt, ist das allein deine Schuld!“, stellte Lars mit kalter Stimme fest. Melina wusste zwar, dass ihr Bruder sich nur Sorgen machte und deshalb so gemein war, aber mit seiner Aussage gab er ihr den Rest. Heiße Tränen rannen ihre Wangen hinunter.
„Warte, Lars! Die Hühner sind gar nicht alle weg. Zum Glück. Nur Flocke fehlt“, versuchte die Mutter, ihren Sohn zu beschwichtigen, als sie bemerkte, wie aufgelöst Melina war. „Flocke?“, fragte das Mädchen schluchzend. „Aber Flocke ist das einzige Huhn, das noch nie weggelaufen ist!“ Tatsächlich hatten sich anfangs fast alle Hennen einmal einen kleinen Spaziergang außerhalb des Freilaufs gegönnt, als dieser noch nicht optimal abgesichert war. Nur Flocke, das weiße Huhn mit der fürsorglichen Art, war noch nie davongelaufen. Es sah ihr auch gar nicht ähnlich, ihre Freundinnen allein zu lassen.
„Es war auch noch nie jemand so ungeschickt, ihr das Tor sperrangelweit offen zu lassen“, erwiderte Lars bissig und verschränkte wieder einmal die Arme. Melina wusste, dass es stimmte, was er sagte. Seit die Hühner bei ihnen wohnten, war die Stalltür, die nach draußen und nicht in den Auslauf führte, für die Tiere nie offen gewesen. Wer wusste schon, wie Flocke darauf reagieren würde? Aber es war doch so schrecklich kalt draußen. Die weißen Schneeflocken wirbelten immer schneller durch die Luft und mittlerweile legte sich auch die Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über die verschneite Landschaft… Wenn Flocke irgendwo da draußen war, dann musste Melina sie finden. Unbedingt. Und zwar, bevor die Arme sich verlief und erfror. Oh Gott. Daran mochte sie gar nicht erst denken.
Melina schluckte, richtete sich auf und rannte, während sie nach ihrer Jacke griff, aus dem Zimmer hinaus in die eisige Kälte. Der Wind schlug ihr unbarmherzig ins Gesicht und die zuvor sanft herabrieselnden Schneeflocken hatten sich in winzige, spitze Eiskristalle verwandelt.
„Melina, jetzt warte doch einmal!“, hörte das Mädchen ihren Vater rufen. „Wir teilen uns auf und jeder sucht einen Teil des Gartens ab, dann finden wir sie bestimmt ganz schnell!“, fügte ihre Mutter hinzu. Ob auch Lars ihr etwas hinterherrief, konnte Melina nicht mehr wahrnehmen. Das Tosen des Schneesturms überdeckte alle Geräusche. Sogar das aufgeregte Gackern der Hühner verschluckte der Wind, so dass Melina es erst hören konnte, als sie direkt vor dem Stall stand. Schluchzend riss sie die Tür auf und warf nur einen schnellen Blick in das Innere. Flocke fehlte, wie Mama es gesagt hatte. Die anderen Hühner bewegten sich unruhig im Stall umher. Ganz bestimmt vermissten auch sie ihre Leithenne, da war sich Melina sicher.
Rasch schloss sie die Stalltür wieder ab. Dieses Mal versicherte sie sich, dass auch tatsächlich der Riegel vorgeschoben war. Wenn sie nicht solche Angst um Flocke gehabt hätte, wäre sie bestimmt wütend auf sich selbst gewesen. Doch für Zorn oder Schuldgefühle war jetzt keine Zeit. Suchend und mit heftig klopfendem Herzen blickte sich das Mädchen im Garten um. Wo könnte sich die Henne versteckt haben? War sie hier noch irgendwo? Oder war sie durch den Gartenzaun geschlüpft?
Verzweifelt drehte sich Melina im Kreis und versuchte, dem kräftigen Sturm standzuhalten. Sie hatte keine Idee, wo sie mit der Suche beginnen sollte. Ihre tauben Wangen waren nass von geschmolzenem Schnee und ihren Tränen.
Doch da entdeckte sie etwas in der dicken Schneedecke unter ihren Füßen. Waren das nicht winzig kleine Spuren? Spuren von Hühnerfüßen vielleicht? Nein, das war unmöglich, dachte Melina. So stark wie es schneite, müssten derartig zarte Spuren sicherlich schon überdeckt sein. Und doch waren sie da. Ob ihre Augen ihr in der Dämmerung vielleicht einen Streich spielten oder sie die Kälte schon verrückt gemacht hatte?
Aber eine bessere Spur hatte sie nicht. Sie durfte nur keine Zeit verlieren, wenn sie Flocke rechtzeitig finden wollte. So gut es der Sturm und der schneebedeckte Boden zuließen, rannte Melina los und folgte den kleinen Fußabdrücken quer durch den Garten. Wie angewurzelt blieb sie plötzlich stehen. Die Spuren führten geradewegs zu dem hinteren Zaun, der das Grundstück vom Wald trennte. „Bitte nicht, bitte, liebe Flocke, sei nicht im Wald“, flüsterte Melina leise.
Um die dicken alten Bäume kroch die Dunkelheit des Abends und der Wintersturm fuhr mit einem heulenden Geräusch um die Baumstämme. Hier war der Winter nicht still und friedlich, sondern eiskalt und bedrohlich. Melina erschauerte. Bei Tageslicht erschien ihr der Wald stets wie verzaubert, Eiszapfen strahlten dann im Licht der matten Wintersonne und das Knirschen der Schritte im Schnee klang vertraut und wunderschön. Doch jetzt hatte der Wald nichts Zauberhaftes.
Melina musste unentwegt an die weiße Henne denken. Wie sie völlig unterkühlt durch den Winterwald stapfte. Wie sie panisch umherflatterte und den Weg nicht mehr fand. Wie sie vielleicht sogar längst erfroren immer weiter von Schnee bedeckt wurde, bis sie niemals mehr jemand finden würde. Schockiert schüttelte das Mädchen diese Gedanken ab.
Auf der anderen Seite des großen Gartens hörte sie noch die Schritte ihrer Eltern und ihres Bruders, die ebenfalls auf der Suche nach dem verschwundenen Huhn waren. Sie konnte nicht auf sie warten. Es zählte jede Sekunde! Ohne weiter nachzudenken schwang sich Melina über den Holzzaun.
Auch wenn sie wusste, dass das natürlich unmöglich war, kam es ihr vor, als wäre es auf dieser Seite der Umzäunung noch einmal um mehrere Grad kälter. Selbst der Sturm schien hier noch heftiger gegen ihren Körper zu peitschen. Zunächst konnte Melina noch einige weitere Spuren erkennen, doch schon nach wenigen Metern erlaubten es ihr die herumwirbelnden Schneeflocken und die Finsternis nicht mehr, den Boden unter ihren Füßen nach Hinweisen abzusuchen.
Sie stolperte voran und ließ sich von dem Wind in eine Richtung treiben. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, welchen Weg sie hätte wählen sollen. So bewegte sich das Mädchen immer weiter hinein in die Tiefen des Waldes. Sie musste sich anstrengen, um überhaupt die Umrisse der Bäume ausmachen zu können und kniff die Augen zusammen, um diese vor der beißenden Luft zu schützen. Mittlerweile spürte sie auch ihre Hände nicht mehr, obwohl sie in dicken Wollhandschuhen steckten.
Als Melina schon längst nicht mehr wusste, ob sie erst Minuten oder schon Stunden durch die Dunkelheit geirrt war, glaubte sie plötzlich, ein schwaches Leuchten zwischen den dicht stehenden Baumstämmen wahrzunehmen. Bestimmt bilde ich mir das nur ein, versuchte sich das Mädchen einzureden. So wie sie langsam die Kontrolle über ihren eisigen Körper zu verlieren schien, würde auch ihr Verstand langsam mit ihr durchgehen, dachte sie. Mit ihren Handschuhen rieb sie sich über die Augen und rechnete fest damit, dass das Licht verschwinden würde, doch es blieb und schien da in der Dunkelheit auf sie zu warten. Da sie inzwischen jegliche Hoffnung verlassen hatte und keine bessere Idee hatte, beschloss sie, diesem eigenartigen Licht zu folgen.
„Bis dorthin gehe ich noch. Danach mache ich mich auf den Weg zurück“, murmelte sie und bemerkte, dass sogar ihre Lippen langsam taub wurden. Daran, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie jemals wieder die Richtung nach Hause finden sollte, wollte sie nun noch gar nicht denken. Mit schwachen Schritten bewegte sich Melina auf das Leuchten zu. Sie konzentrierte sich, um es nicht aus den Augen zu verlieren. Sie kam immer näher und näher und dann…
Dann war das Licht weg. Es löste sich einfach in Luft auf. Es war einfach verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere. Melina blieb alleine zurück, alleine in der Dunkelheit und ohne jede Hoffnung. Verzweifelt wollte das Mädchen auf die Knie fallen, als es plötzlich ein leises Geräusch wahrnahm. Es klang wie…wie ein Gackern. Wie…
„Flocke!“, rief Melina sofort. Sie konnte es nicht glauben. Vorsichtig und mit vor Erschöpfung und Kälte zitternden Beinen beugte sie sich hinunter. Genau an der Stelle, an der das Licht verschwunden war, entdeckte sie eine kleine Höhle in einem alten Baumstamm. Darin saß, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, ihre weiße Henne und gackerte aufgeweckt. Es klang wie eine freudige Begrüßung. Zum wiederholten Mal an diesem Tag konnte Melina ihre Tränen nicht zurückhalten. „Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“ Unter dem Schluchzen kamen die Worte nur mühsam aus ihrem Mund heraus. Flocke schien trotzdem zu verstehen, was ihre Freundin ihr sagen wollte. Mit einem Satz sprang die Henne auf den Schoß der im Schnee knieenden Melina. Lachend und weinend zugleich strich das Mädchen dem Huhn über das weiche Gefieder.
„Geht es dir gut?“, flüsterte sie und nahm das Tier, so gut es in der Dunkelheit eben ging, unter die Lupe. Eigentlich hätte die Henne eiskalt sein und Erfrierungen zeigen müssen, doch zu Melinas Überraschung war Flockes Körper richtig warm. Außerdem wirkte das Huhn gesund und munter wie immer. Das Mädchen runzelte die Stirn, beschloss aber, sich nicht weiter zu wundern, sondern die Rückkehr ihrer Henne als Weihnachtswunder zu verstehen. Obwohl…Rückkehr? Zitternd sah sich Melina um. Noch waren sie nicht daheim. Und sie hatte keine Idee, in welcher Richtung ihr Haus überhaupt lag. Außerdem war es viel zu dunkel, um ihre eigenen Spuren ausmachen zu können, um ihnen zu folgen.
„Wie sollen wir nur den richtigen Weg finden?“, murmelte sie und presste das weiche Tier eng an sich. Sie verstand zwar nicht, wie das möglich war, doch der Körper der Henne spendete ihren tauben Händen ein wenig Wärme. Flocke war ein schlaues Tier, doch sie in diesem Schneesturm und bei Dunkelheit zurück nach Hause zu führen, konnte auch sie nicht. Melina war zwar verzweifelt und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihrer Familie im warmen Wohnzimmer zu sitzen und Kakao zu trinken, doch die Erleichterung, dass sie ihre geliebte Flocke gefunden hatte, verkleinerte ihre Sorgen. Zumindest war sie jetzt nicht mehr ganz alleine in diesem dunklen, unheimlichen Wald. Doch als sie sich umsah und ein wenig innehielt, bemerkte sie, dass der Schneesturm nachgelassen hatte. Alles wirkte plötzlich ruhiger und friedlicher und trotz der Dunkelheit fast ein bisschen magisch.
Nun, da das Tosen des Windes verstummt war, hörte sie wieder die Stille des Winters. Eine Stille, die nun zum zweiten Mal an diesem Tag durchbrochen wurde.
„Melina!“. „Wo bist du?“. Es waren die Stimmen von Mama, Papa und Lars. Noch bevor Melina antworten konnte, fiel das Licht einer Taschenlampe auf sie und Flocke. Erschöpft, aber überglücklich stürmten ihre Eltern und ihr Bruder auf das Mädchen und die Henne zu. Ihre Mutter konnte die Tränen nicht zurückhalten und umarmte Melina so heftig, dass das Mädchen sie sanft wegschob, damit Flocke in ihren Armen nicht zerquetscht wurde.
Alle lachten und weinten vor Freude. Lars nahm seiner Schwester vorsichtig Flocke ab, ihr Papa nahm Melina auf den Rücken und trug sie den ganzen Weg nach Hause. Das Mädchen war so müde und ausgekühlt, dass es sich nachher kaum an diesen Spaziergang durch den Wald erinnerte.
Wenig später saßen Papa, Mama, Lars und Melina zusammen im Wohnzimmer neben der Heizung. Das Mädchen war in mehrere dicke Decken eingewickelt und nippte an einer heißen Tasse Kakao. Inzwischen war ihr Körper wieder aufgetaut und ihre Finger fühlten sich nicht mehr an wie Eiszapfen.
„Wir waren so in Sorge um dich“, wiederholte ihre Mutter zum mindestens zehnten Mal. „Aber ich musste doch Flocke retten“, erklärte Melina dann geduldig immer wieder. „Aber wenn dir was passiert wäre… Wenn wir dich nicht gefunden hätten, dann…“, begann daraufhin ihr Vater. „Aber ihr habt mich ja gefunden“, meinte dann stets seine Tochter. Sie wusste, dass das kein gutes Argument war, aber ein anderes fiel ihr nun einmal nicht ein.
„Melina, es tut mir so leid, was ich gesagt habe. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn dir etwas zugestoßen wäre.“ Mit gesenktem Blick entschuldigte sich Lars bei seiner Schwester und sie umarmte ihn heftig. „Ich bin dir doch nicht böse. Heute war einfach kein guter Tag. Weihnachten läuft bei uns einfach nie wirklich ohne Probleme ab“, sagte Melina mit einem traurigen Lächeln und musste an den Stress und die Streitereien des Tages denken.
„Aber das heißt nicht, dass Weihnachten dieses Jahr nicht noch anders werden kann. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde, das Wichtigste ist, dass wir alle zusammen sind. Ob wir den schönsten Weihnachtsbaum, die größten Geschenke oder das beste Weihnachtsessen haben, spielt doch keine Rolle“, meinte Lars und ihre Eltern stimmten augenblicklich zu. Melina musste lächeln. Sie hätte nicht gedacht, so etwas aus dem Mund ihres Bruders zu hören. Aber es machte sie glücklich, dass endlich auch ihre Familie verstanden hatte, worum es bei Weihnachten wirklich ging: um Liebe und Familie. Und natürlich um Freundschaft. Und ihre Freunde wollte Melina unbedingt noch besuchen gehen.
Dick in Decken eingehüllt – darauf hatte ihre Mutter bestanden – saß Melina kurz darauf im Hühnerstall. Lars hatte sie begleitet und ihrer Mama versprechen müssen, darauf zu achten, dass Melina nicht zu lange in der Kälte draußen blieb. Flocke hatte sich von dem Schreck scheinbar gut erholt. Völlig entspannt saß sie mit ihren Freundinnen im weichen Stroh und gackerte leise, als Melina über ihr Gefieder strich. Mit ihren großen, weisen Augen blickte die Henne ihre menschliche Freundin an. „Danke“, flüsterte Melina leise. Denn eine Sache glaubte sie plötzlich zu wissen: „Du bist nur weggelaufen, damit ich dich finde und sich so alle wieder vertragen, oder?“ Das Tier legte ein wenig den Kopf schief und Melina musste lächeln.
Als sie nachher mit Lars durch den Schnee zurückstapfte, blieb sie noch einmal kurz stehen und schloss die Augen. Sie atmete die eisige Luft ein. Sie lauschte der Stille des Winters und dem leisen Gackern der Hühner. Das würde ein ganz besonderes Weihnachtsfest werden, da war sie sich sicher.
Wir wünschen frohe und besinnliche Weihnachten! ?